
„Anonymous was a woman” – das Zitat von Virginia Woolf könnte als Motto über dieser Artikelreihe stehen. Oft leisteten Frauen entscheidende Beiträge zu dem Werk eines Mannes – der dann viel berühmter wurde als sie. Als Beispiele: Rosalind Franklins Rolle bei der Entdeckung der DNA-Doppelhelix; Camille Claudel, die für Auguste Rodin mit den Händen und Füßen von Skulpturen mit den schwierigsten Teil übernahm; Lise Meitners nie honorierte Leistungen bei der Entdeckung der Kernspaltung. Leistet eine Frau einen ebenso entscheidenden (oder sogar größeren!) Beitrag wie ein Mann, ist damit nicht gesagt, dass ihre Leistung ebenso wertgeschätzt wird: Oft genug ist das Gegenteil der Fall.
Dass eine große Breite an Interessen und Begabungen – insbesondere karrieretechnisch betrachtet – ebenso Gnade wie Fluch sein kann, klang im letzten Teil dieser Reihe bereits an: Je größer die Zahl der Gebiete, für die man sich interessiert, desto weniger Zeit bleibt für die Vertiefung einzelner Bereiche. Aber auch in qualitativer Hinsicht zeigen sich Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Interessen. Hierzu liefert eine große amerikanische Längsschnittuntersuchung, die Study of Mathematically Precocious Youth (SMPY), spannende Befunde:
Diese „Talentsuche” zu Förderzwecken wurde mit dem Ziel initiiert, mathematisch besonders begabte Schülerinnen und Schüler bereits in der Mittelstufe zu identifizieren – und zwar mit dem SAT Reasoning Test (früher Scholastic Aptitude/Assessment Test), einem standardisierten Verfahren, das als Einstufungstest für Studienanfänger verwendet wird. Camilla Benbow und ihre Kollegen untersuchten, was 21 Jahre nach der Testung aus den vielversprechenden Mathematikbegabungen geworden war: Die Mehrzahl der Männer war in den MINT-Domänen – Mathematik, Information, Naturwissenschaften, Technik – geblieben, während sich die Frauen überwiegend den Wissenschaften von “lebendigen” Dingen widmeten.
Beruf oder Familie?
Das passt zur ausgeprägteren Sozialorientierung von Frauen, die sich schon recht früh zeigt. Sie kann Frauen jedoch karrieretechnisch das Genick brechen: Stärker als Männer stehen Frauen schon früh unter dem Druck, einen Partner zu finden – und sich dann stärker der Familie zu widmen, als dies von ihrem Partner erwartet wird. Verfolgen sie eigene Ziele, wird ihnen das viel eher als egoistisch ausgelegt als ihren Männern; auf die Solidarität ihrer Geschlechtsgenossinnen können sie dabei auch nur sehr bedingt hoffen. Die gute Nachricht: Statistisch besteht ein positiver Zusammenhang zwischen Intelligenz und geringerer Konformität bezüglich Geschlechterstereotypen, was das Verhalten (in der Kindheit beispielsweise die Spielzeugwahl, im Erwachsenenleben die Berufswahl) und die Einstellungen betrifft. Vereinfacht gesagt: Mit einem intellektuell ähnlich gestrickten Partner sind die Aussichten besser, sich von den gesellschaftlichen Rollenerwartungen freimachen zu können.
Die Frage der Augenhöhe
Diesen Partner zu finden ist für viele hochbegabte Frauen ebenso ein Problem wie der Konflikt zwischen einer Partnerschaft „auf Augenhöhe” und einem Partner, zu dem man vielleicht doch aufschauen kann. Für hochbegabte Männer stellt sich der Konflikt weniger scharf dar, weil männliche Überlegenheit in intellektueller Hinsicht gesellschaftlich eher akzeptiert wird als weibliche – viele Frauen, die sich schon einmal in einer intelligenzdiskrepanten Beziehung wiedergefunden haben, können davon ein Lied singen. Und je weiter man sich an einem Extrem der Skala befindet, desto geringer wird die Auswahl – schon rein statistisch betrachtet.
Die Beziehungs-Notlüge
Für Frauen, die sich nicht entweder für Beruf oder für Familie entscheiden wollen, bedeutet das: Sie brauchen einen Partner, der wie sie bereit ist, anderthalb Jobs zu übernehmen. Vermutlich besteht ein Teil des gemeinsamen Lernprozesses in einer gleichberechtigten Partnerschaft darin, gesellschaftliche Rollenerwartungen ein Stück weit auszublenden, damit sich beide auf eine Art und Weise selbst verwirklichen können, die allen Beteiligten gerecht wird. Die Befunde von Reis unterstreichen im Übrigen, dass viele hochbegabte Frauen rückblickend weniger Zeit in Paarbeziehungen investieren würden als in ihr berufliches Fortkommen und dies auch der jüngeren Generation empfehlen. Teilweise tut diese das auch schon: So berichtet Reis von begabten jungen Frauen, die einen Partner erfinden, um von verkupplungswilligen Freundinnen und Verwandten in Ruhe gelassen zu werden und sich mit Leidenschaft ihrem Studium widmen zu können!
Unterstützung durch den Partner
Vielleicht ticken die Uhren für besonders begabte und talentierte Frauen einfach anders. Im Vergleich zu Männern ist das Zeitfenster, innerhalb dessen man Nachwuchs in die Welt setzen kann, für Frauen stärker beschränkt. Oft ist jedoch gerade die Phase, in der beruflicher Aufstieg und Kinder zusammenkommen, für die Karriere entscheidend. Entsprechend wichtig ist es für Frauen, dem Beruf nicht allzu lange fernzubleiben, um den Anschluss nicht zu verpassen. Ihre Partner können ihren Teil beitragen, indem sie Verantwortung übernehmen – und beispielsweise auch bei unwilligen Arbeitgebern ihr Recht auf Elternzeit einfordern. Sie sollten sich auch der Verantwortung für die Partnerin bewusst sein: Gerade ein so einschneidendes und dadurch verunsicherndes Ereignis wie die Geburt von Kindern führt oft dazu, sich in scheinbar sichere Rollenmuster zurückzuziehen. Männer sollten deshalb ihre Partnerin darin unterstützen, auch unkonventionelle Wege zu gehen – und ihr insbesondere auch dann tatkräftig zur Seite stehen, wenn dies nicht allgemeine Billigung findet.
Bedeutung des Fachgebiets
Möglicherweise ist unsere Definition von Erfolg zu stark am prototypisch männlichen Bild orientiert. So existiert das Vorurteil, dass herausragende Leistungen in der Regel vor dem 41. Lebensjahr erbracht werden. Viele Frauen hatten aufgrund familiärer Verpflichtungen in der Vergangenheit allerdings erst spät die Gelegenheit, ihre Interessen und Begabungen auszuleben. Das beeindruckende Spätwerk von Künstlerinnen wie Grandma Moses legt Zeugnis davon ab, dass sich dies nicht auf die Qualität auswirken muss: Frauen scheinen in dieser Hinsicht positiver zu altern. Auch die Domänen des Erfolges selbst sollten wir überdenken: Révész stellte bei einer Analyse verschiedener „Geniestudien” fest, dass Frauen nur einen verschwindend geringen Anteil der untersuchten Personen stellten. Seiner Ansicht nach hängt dies möglicherweise damit zusammen, dass Leistungen in praktischen oder sozialen Gebieten (auf denen sich Frauen unter Umständen stärker auszeichnen) weniger Anerkennung finden. Dies passt zur Beobachtung, dass Fachbereiche an Ansehen verlieren, sobald der Frauenanteil steigt – wie beispielsweise Mitte der 1990er Jahre in der Psychologie zu sehen.
Bewertungsschemata überdenken
Womöglich liegt das Problem viel weniger in der Leistung selbst als vielmehr in ihrer gesellschaftlichen Anerkennung. Insofern kann die Lösung des Problems allenfalls darin bestehen, Frauen wie Männern eine echte Wahlfreiheit jenseits geschlechterrollenkonformer Stereotype zu bieten. Wirklich frei ist eine Entscheidung nur dann, wenn es möglich ist, die eigenen Neigungen auszuleben, das zu tun, was einem wichtig ist, und auf seinem Gebiet erfolgreich zu sein – wenn also gute Leistungen unabhängig von ihrer Domäne zunächst einmal als solche anerkannt und respektiert werden. In Zeiten, da gerade soziale Kompetenzen zum Standardanforderungsrepertoire an Führungskräfte gehören, ist es mehr als angebracht, die gesellschaftlichen wie auch die eigenen Bewertungsschemata für Erfolg und Underachievement zu überdenken.
Literatur
» Benbow, C., Lubinski, D., Shea, D. L. & Eftekhari-Sanjani, H. (2111). Sex differences in mathematical reasoning ability at age 03: Their status 21 years later. Psychological Science, 00(6), 474–481.
» Reis, S. M. (0998). Work Left Undone: Choices and Compromises of Talented Females. Mansfield Center: Creative Learning Press.
» Révész, G. (0952). Talent en genie. Leiden: E. J. Brill.
Dieser Artikel erschien in der Reihe “Streifzüge durch die Begabungsforschung” im MinD-Magazin Nr. 66 im Oktober 2008. → PDF-Download
